Thema

Ein musikalischer Auftakt

Dr. Carlo Carnaghi ist der neue Primar der Onkologie in Bozen – Onkologisches Netzwerk
Vielleicht mehr als nur ein Zufall… Das erste Vorstellungsgespräch
von Dr. Carlo Carnaghi als Kandidat für das Primariat in der Onkologie Bozen fiel mit einem Konzert der „Donatori di Musica” zusammen, ebenso wie sein erster Arbeitstag am 14. Mai. Der alte und der neue Primar, Dr. Claudio Graiff und Dr. Carlo Carnaghi folgten nebeneinander dem Konzert von Gianni Bietti am Flügel und dem Sopran Gemma Bertagnolli.
Ein außergewöhnlich kommunikatives Konzert wurde dem Publikum, (Ex)Patienten, Angehörige und das Personal der Abteilung geboten: ebenso kurze wie heitere Toskanische Volkspoesien aus dem Canzoniere op.17 von Ermanno Wolf-Ferrari sowie Lieder von Béla Bartok und Richard Strauss. Ein Lied von Strauss beendete das Konzert mit einem hoffnungsvollen Wunsch: „…und morgen wird die Sonne wieder scheinen.“
Die „Donatori di Musica“ wurden von Dr. Graiff zusammen mit dem Onkologen Dr. Maurizio Cantore aus Ferrara initiiert. Die universelle Sprache der Musik soll positive Emotionen und ein humanes Ambiente in die Wartesäle der Onkologien bringen.
Dr. Carlo Carnaghi war die letzten 20 Jahre in der Onkologie des Krankenhauses Humanitas in Rozzano/ Milano tätig, eine Universitätsklinik und hochspezialisiertes wissenschaftliches Forschungsinstitut. Der neue Primar wurde direkt vom Generaldirektor des Sanitätsbetriebs, Dr. Thomas Schael berufen und gilt als einer der führenden Onkologen in Italien.
Die Chance hat dem neuen Primar einige Fragen gestellt:
Chance: Was veranlasst einen hochqualifizierten Arzt wie Sie, von einem Universitäts-Klinikum wie Humanitas in Mailand nach Bozen in die Provinz zu wechseln?
Dr. Carlo Carnaghi: Warum ich hergekommen bin? Eine Frage, die ich eigentlich nicht zu beantworten weiß… Ich finde das Modell der Sanität in Südtirol sehr interessant, das ich als sozial definieren würde. In Südtirol muss niemand private Strukturen in Anspruch nehmen, um sicherzugehen, qualitativ hochwertig behandelt zu werden! Ja, und dann glaube ich, dass 25 Jahren Mailand vielleicht genug sind und es sich in Südtirol sehr gut leben lässt!
Der neue und der alte Primar: Dr. Carlo Carnaghi und Dr. Claudio Graiff
Chance: Das heißt, Sie haben hier eine sehr gut funktionierende Realität vorgefunden?
Dr. Carlo Carnaghi: Absolut. Und sehr gut strukturiert. Ich muss sagen, dass mein Vorgänger Dr. Graiff ausgezeichnete Arbeit geleistet hat. Sein Organisationsmodell sagt mir sehr zu und es ist perfekt auf unser ausgesprochen sensibles Gebiet zugeschnitten. Jedem Patient wird ein Arzt als Ansprechpartner für die gesamte Dauer seiner Therapie zugewiesen und auch darüberhinaus
Chance: Ist das anderswo etwa nicht so?
Dr. Carnaghi: In vielen Onkologien in Italien ist das nicht so und die Patienten sind immer wieder, manchmal sogar von Visite zu Visite, mit anderen Ärzten konfrontiert.
Chance: Sie haben vor genau einem Monat die Arbeit in Bozen aufgenommen (das Interview wurde am 15. Juni geführt, Anm. d. Red.). Was können Sie über diese erste Zeit sagen?
Dr. Carnaghi: Ich bin leider immer noch zu sehr in Anspruch genommen von bürokratischen und organisatorischen Angelegenheiten. Für mich ist es eine absolute Priorität, nahe am Patienten zu sein. Bisher war das leider noch so möglich, wie ich gerne möchte, aber in Kürze hoffe ich mich ganz den Patenten widmen zu können.
Chance: Haben Sie ein besonderes Anliegen für ihre Arbeit als Primar?
Dr. Carnaghi: Ich möchte zusammen mit den Kollegen der anderen Krankenhäuser in Südtirol ein onkologisches Netzwerk aufbauen, damit wir gemeinsam die Patienten immer besser von der Diagnose an begleiten und ihnen multidisziplinäre Therapien der letzten Generation anbieten können. Die Onkologie ist ein derart komplexes Gebiet, dass wir unsere Kräfte vereinen müssen, um das Beste bieten zu können. Jedem einzelnen!
Gemma Bertagnolli und Gianni Bietti haben im Wartesaal der Onkologie Bozen ein Konzert der "Donatori di Musica" gegeben

Thema

Im Team für unsere Patienten

Interview mit den drei Leitern der Onkologien Bozen, Meran und Bruneck
Über den Bildschirm sehen sie sich jeden Tag, während der Videokonferenz des Tumorborards, aber alle drei an einem Tisch sind sie noch nicht zusammengekommen: der neue Primar der Onkologie Bozen, Carlo Carnaghi, der Primar des Day Hospitals von Meran, Manfred Mitterer und der Leiter des Day Hospitals in Bruneck, Christoph Leitner.
Alle drei sind sich einig darüber, dass es in Zukunft nicht nur darum geht, jeden Patienten bestmöglich zu behandeln, sondern auch darum, immer enger zusammenzuarbeiten, um mit den ständigen Neuerungen in der Krebstherapie Schritt halten zu können.
Chance: Die Onkologie ist in einer so rapiden Entwicklung begriffen, dass es fast unmöglich scheint, alle Neuheiten angemessen zu verfolgen, die praktisch jeden Tag veröffentlicht werden…
Dr. Carlo Carnaghi: Man kann tatsächlich von einer Revolution in unserem Fachgebiet sprechen und genau aus diesem Grund bin ich davon überzeugt, dass wir immer mehr im Team arbeiten müssen. Je besser wir unsere Kapazitäten vereinen, desto besser können wir unsere Patienten behandeln.
Chance: In diesem Saal sehen Sie sich jede Woche während der Videokonferenz des Tumorboards…
Dr. Manfred Mitterer: Jede Woche? Nein, jeden Tag! Mindestens. Es gibt zehn verschiedenen Tumorboards. Das gynäkologische, das urologische, das Lungen Tumorboard, das Brusttumorboard usw.
Dr. Carnaghi: Ich muss sagen, dass ich noch in keinem Krankenhaus einen so gut ausgestatteten Videokonferenzsaal gesehen habe und schon gar nicht solch eine intensive Nutzung!
Chance: Die Videokonferenzen werden nicht nur zwischen den Südtiroler Krankenhäusern sondern auch mit Innsbruck, Trient, Verona oder Mailand abgehalten, richtig?
Dr. Christoph Leitner: Mit Innsbruck ja und gelegentlich auch mit Trient, wenn es um eine besondere Strahlentherapie geht. Mit Verona und Mailand nein. Es gibt verschiedene Schulen der Onkologie in Österreich, der Schweiz, Deutschland oder Italien. Sie sind ähnlich, aber nicht gleich …
Dr. Manfred Mitterer: …aber sie sind kompatibel! Und eine Öffnung zu anderen Methoden hin ist sicher interessant. Hierzu muss man auch sagen, dass innerhalb des Sanitätsbetriebes bis vor sechs, sieben Jahren niemand von Onkologie gesprochen hat. Erst in den letzten Jahren ist der Wunsch aufgetreten auch in den verschiedenen Bezirken Kompetenzzentren zu schaffen.
Dr. Carnaghi: …durch eine immer engere Zusammenarbeit und die Schaffung eines Netzwerks können diese sich parallel entwickeln und einheitliche auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zugeschnittene Therapie-Programme anbieten. Nicht zuletzt ermöglicht die enge Zusammenarbeit auch eine gemeinsame Nutzung der Ressourcen, der neuen Pharmaka, die nebenbei ungemein kostspielig sind und die kompetent eingesetzt werden müssen. Ich sehe das als große Verantwortung unsererseits.
Chance: Auch der “Beruf” des Onkologen hat sich sehr geändert in den letzten Jahren. Ein Onkologe muss sich auch in Gynälologie, Pneumologie, Urologie etc. auskennen.
Dr. Leitner: In jeder Abteilung gibt es jemanden, der zusätzlich auf ein anderes Fachgebiet spezialisiert ist.
Dr. Carnaghi: Wir müssen uns immer untereinander austauschen. Wenn jeder seine spezifischen Kenntnisse miteinbringt, ist das in meinen Augen ein unglaublicher Mehrwert. Wir dürfen uns nicht hinter unserem besonderen Fachgebiet verschanzen. Das gilt auch für rare Pathologien, ich habe mich z. B. sehr intensiv mit neuroendokrinen Tumoren befasst und stelle meine Kenntnisse gerne den anderen zur Verfügung. Und gerade in dieser Hinsicht wird auch die Videokonferenz zu einem immer wichtigeren Instrument, weil wir unsere Therapien untereinander absprechen und aufeinander abstimmen können im Interesse der Patienten. Eine bessere Zusammenarbeit zielt außerdem auch in Richtung klinischer Forschung, die in Südtirol noch besser entwickelt werden muss.
Dr. Manfred Mitterer: Auf diese Weise werden wir auch wieder interessant für die vielen Ärzte, die außerhalb Südtirols tätig sind und die nach der Facharztausbildung nicht mehr zurückgekommen sind.
Chance: Und warum keine Konventionen mit italienischen Universitäten wie Padua, Verona oder Mailand abschließen, um die Facharztausbildung hier anzubieten?
Dr. Manfred Mitterer: Das ist nicht so einfach. Die Universitäten verlangen gewisse Voraussetzungen, die wir im Augenblick nicht erfüllen.
Dr. Carlo Carnaghi: Aber ohne einen Ausbau der klinischen Forschung und ohne die Möglichkeit, junge Ärzte auszubilden, die Enthusiasmus und neue Kenntnisse mit sich bringen, werden wir uns auf Dauer nur schwer weiterentwickeln können.
Chance: Kann man sagen, die Südtiroler Onkologie entspricht den höchsten Standards, auch wenn wir nur ein kleines Land mit wenig mehr als 500.000 Einwohnern sind. Nicht einmal die Hälfte einer Großstadt!
Dr. Manfred Mitterer: Absolut! Ein Südtiroler Krebspatient muss nicht anderswo nach besseren Therapien suchen.
Dr. Christoph Leitner: Wir können jedem die allerbesten Therapieprogramme bieten.
Dr. Carlo Carnaghi: Das kann ich nur bestätigen. Die Onkologie hier ist auf dem neuesten Stand. Und mehr noch, alle Dienste funktionieren ausgezeichnet und stehen jedem zur Verfügung.
Dr. Mitterer und Dr. Christoph Leitner: Die Südtiroler sind vielleicht auch ein bisschen verwöhnt und haben nicht immer gegenwärtig, wie gut es ihnen hier geht und dass unser Sanitätswesen, den Vergleich mit anderen nicht zu scheuen braucht.
Dr. Carlo Carnaghi: In vielen Bereichen funktioniert das öffentliche Gesundheitswesen hier wesentlich besser als anderswo …
Chance: Apropos Facharztausbildung. Stichwort Medical School…
Dr. Manfred Mitterer: Ich war Mitglied der Arbeitsgruppe, die das Projekt entwickeln sollte. Wir hätten sogar 40 Ärzte mit Hochschullehrbefähigung gehabt. Aber ich kann ihnen versichern, das Projekt ist tot.
Dr. Christoph Leitner: Es war an ein Euregio-Modell gedacht, wie zwischen Deutschland und Östereich, drei Jahre der Ausbildung hier.
Dr. Carlo Carnaghi: Das ist sicher ein Thema, das man wiederbeleben sollte, wir müssen Kontakte aufnehmen, den italienischen Universitäten gemeinsame Projekte vorschlagen. Junge Menschen im Team zu haben, ist von größter Bedeutung, ebenso wie die klinische Forschung.
Chance: Wie sehen Sie die Onkologie der nächsten Jahre?
Dr. Carlo Carnaghi: Ein Gebiet in rasender Entwicklung. Es wird sich alles ändern. Bald schon. Nehmen Sie nur das Beispiel der Immuntherapie...
Dr. Manfred Mitterer: Schon heute gibt es Neuheiten, die wir uns vor zwei Jahren nicht hätten träumen lassen. Therapieerfolge, z. B. bei Lungenkrebs oder Nierenkrebs, die fast schon wundersam erscheinen.
Dr. Carlo Carnaghi: Wir arbeiten immer mehr auf Molekularbasis, mit einer neuen Generation von Pharmaka. Aber auch hier gibt es Nebenwirkungen, die nicht zu unterschätzen sind.
Chance: Die Chemotherapie ersetzen, heißt demnach nicht, nicht mehr unter Nebenwirkungen leiden zu müssen, wie vielleicht mancher Patient hofft?
Dr. Christoph Leitner: Es gibt andere Nebenwirkungen, vielleicht nicht so häufig, aber dafür schwerer zu behandeln als die durch Chemotherapie verursachte Übelkeit.
Dr. Carlo Carnaghi: Auch die Definition von Krebs wird sich ändern. Wir werden nicht mehr von Brustkrebs, Prostatatkrebs oder Lungenkrebs sprechen, sondern von bestimmten Molekularprofilen. Wir werden auch für die Diagnose mehr mit Blutanalaysen als mit Gewebeanalysen arbeiten.
Chance: Sie meinen, aus einer einfachen Blutprobe kann man erkennen, ob ich Krebs habe oder nicht? Blutproben als Screening?
Dr. Carlo Carnaghi: Nein, das nicht. Aber aus dem Bluttest kann ich erkennen, welche besonderen Charakteristiken der Tumor hat, welche Molekular-Struktur, welche Mutation zugrunde liegt. Und dementsprechend kann ich meine Therapie zusammenstellen.
Dr. Christoph Leitner: … und immer mehr personalisieren.
Dr. Manfred Mitterer: Stichwort “biopsia liquida”. Aber ganz so einfach ist das auch nicht. Wir sind schließlich keine Autos, die man zur Revision bringt.
Chance: Viele Patienten informieren sich im Netz…
Dr. Christoph Leitner: Leider stimmt nicht alles, was man da so liest… Der Dialog mit dem Patienten ist von größter Wichtigkeit!
Dr. Carlo Carnaghi: Jede Erkrankung ist einzig und jeder Patient ist einzig und wir müssen die beste Lösung für sein ganz spezifisches Problem finden. Wir haben natürlich Standard-Protokolle, aber es gilt immer mehr, darüberhinaus andere Wege zu suchen. Und hier komme ich auf das Netzwerk zurück. Je enger wir zusammenarbeiten und uns austauschen, umso leichter tun wir uns, die richtigen Lösungen für jeden einzelnen Fall zu finden.
Chance: Vorsorge ist ein ganz wichtiges Thema… Die Bevölkerung aufklären und motivieren, Veranstaltungen für ein breites Publikum organisieren wie z. B. die Ersten Brunecker Krebsgespräche im vergangenen Frühjahr mit Ärzten und mit Patienten und ihrer ganz persönlichen Geschichte.
Dr. Christoph Leitner: Wir waren selbst vom Erfolg überrascht, auch dass so viele Menschen gekommen sind, die nicht erkrankt waren. Tatsächlich sind wir dabei eine zweite Auflage anzudenken. Und das muss nicht unbedingt in Bruneck sein. Warum nicht z. B. in Meran? Südtiroler Krebsgespräche, die jedesmal an einem anderen Ort stattfinden…
Chance: Südtirol steht in der Rangliste bezüglich der Teilnahme an den Vorsorge-Screenings in den italienischen Regionen sehr weit hinten!
Dr. Christoph Leitner: Das stimmt leider. Aber es gibt natürlich auch Tumore, für die es noch kein Screening gibt, wie z. B. für den Lungenkrebs.
Dr. Carlo Carnaghi: Ich arbeite jetzt seit einem Monat in Bozen und ich muss sagen, dass ich sehr erstaunt bin, wie viele Patienten sich mit Tumoren in fortgeschrittenem Stadium vorstellen. Ich habe auch den Eindruck, dass hier der Umgang mit dem Rauchen und mit Alkohol sehr leichtfertig ist, gerade auch bei jungen und ganz jungen Menschen. Auf dem Weg zur Arbeit fahre ich jeden Tag an einer Bushaltestelle vorbei und sehe viele Jugendliche mit Schultasche und der Zigarette im Mund. Das ist schockierend! Am liebsten würde ich das Auto anhalten, um mit ihnen zu reden…
Dr. Manfred Mitterer: Und nicht nur die Jugendlichen! Auch die Frauen. In den nächsten zehn Jahren rechnen wir mit einem Anstieg von Lungenkrebserkrankungen bei Frauen bis 50 um hundert Prozent!!
Chance: Die Aufklärungsarbeit muss demnach intensiviert, neue Strategien angedacht werden.
Dr. Christoph Leitner: Ganz bestimmt, auch ganz allgemein zum Thema Lebensstil.
Dr. Manfred Mitterer: Immer wieder auf die Wichtigkeit des Sonnenschutzes hinweisen, die Leute immer und immer wieder auffordern, die Screenings wahrzunehmen…
Dr. Carlo Carnaghi: Eine weitere wichtige Aufgabe, die es gemeinsam anzugehen heißt!