Thema

Neue Front: Cancer-Survivorship

Interview mit Dr. Christoph Leitner zu (Langzeit)Nebenwirkungen der Krebstherapien
Cancer-Survivorship, die Betreuung von Patienten, die eine Krebsbehandlung abgeschlossen haben, ist ein immer wichtigeres Thema. Hier besteht Nachholbedarf. Ein Interview mit Dr. Christoph Leitner, leitender Arzt des Onkologischen Dayhospitals in Bruneck über (Lang)Zeitnebenwirkungen der Krebsbehandlung.
Die Prognosen der an Krebs erkrankten Patienten haben sich in den letzten Jahren drastisch verbessert.
Dr. Christoph Leitner: Das stimmt. Es gibt weniger Rezidive, die Patienten überleben wesentlich länger als noch vor zehn Jahren. Gleichzeitig: je mehr Patienten gesunden, desto mehr Langzeitnachwirkungen gibt es zu behandeln.
Was sagen die Studien darüber?
Dr. Christoph Leitner: Die Studienlage ist bisher sehr schlecht und unübersichtlich. Es besteht hier in meinen Augen ein enormer Nachholbedarf. Das Feld ist zudem sehr weit, die modernen Therapien sind sehr unterschiedlich, sehr heterogen und dasselbe gilt auch für die Langzeitnebenwirkungen.
Welcher Art sind die Nebenwirkungen?
Dr. Christoph Leitner: Wir müssen prinzipiell unterscheiden, zwischen somatischen, organischen Nebenwirkungen und psychisch-sozialen. Erstere sind zum Beispiel Schädigungen des Herzmuskels und neurologische Beeinträchtigungen wie eine Polyneuropathie. Es gibt auch die sehr seltenen (!) Zweittumore, die weder Metastase noch Rezidiv sind, sondern durch die zytostatische Krebstherapie verursacht sind. Es können Hormon-bedingte, vegetative Nebenwirkungen auftreten, wie vorgezogenes Klimakterium oder eine Osteoporose. Wieder andere Nebenwirkungen sind hingegen psychischer Natur, wie zum Beispiel Depressionen, Schlaflosigkeit, Antriebsarmut, Angstzustände… Und es ist nicht gesagt, dass diese Störungen unmittelbar, direkt im Anschluss an die Therapie auftreten.
Stimmt das: Je mehr Therapien – desto mehr Nebenwirkungen?
Dr. Christoph Leitner: Ja, das kann man so sagen. Es gibt natürlich auch große Unterschiede zwischen den Nebenwirkungen.
Im Sinne von akut und chronisch?
Dr. Christoph Leitner: Genau. Wir haben es mit akuten Nebenwirkungen wie Erbrechen usw. zu tun. Aber die sind nur temporär und es gibt mittlerweile sehr gute Medikamente dagegen. Was heute viel wichtiger ist, ist die Verhinderung und die Kontrolle jener Nebenwirkungen, die bleibende und wie bereits gesagt, nicht vorhersehbare Schäden bewirken.
Von was hängen die Langzeitnebenwirkungen ab?
Dr. Christoph Leitner: Zum einen natürlich von der Konstitution und eventuellen Vorbelastungen des Patienten, es kommen Faktoren ins Spiel wie Alter, Bewegung, Stress, Alkohol, Rauchen, genetische Konstellationen. Es gilt grundsätzlich: Je gesünder der Lebensstil, desto weniger Risiken zu erkranken, desto bessere Heilungschancen und desto bessere Chancen auf weniger Nebenwirkungen. Zum anderen spielt auch die jeweilige Art der Therapie, das verabreichte Medikament, die Kombination der Medikamente und die verabreichte Dosis eine große Rolle.
Gibt es auch, ich nenne es jetzt „gewöhnliche“ Nebenwirkungen einer Krebstherapie, wie Lähmungserscheinungen, Brennen, Schmerzzustände, die chronisch werden können?
Dr. Christoph Leitner: Diese von ihnen angesprochenen Symptome können auf eine Polyneuropathie hinweisen. Eine solche tritt bei ungefähr 40 % der Patienten auf. Bei 80 % sind sie reversibel, d. h. nach Beendigung der Therapie verschwinden sie wieder. Bei 20 % der Patienten können sie einen chronischen Verlauf nehmen.
Was heißt das für den Onkologen?
Dr. Christoph Leitner: Es heißt, dass wir eine noch genauere Anamnese vornehmen müssen und alle möglichen Risiko-Faktoren vor Beginn der Therapie mit dem Patienten/ der Patientin abklären müssen. Die Patienten müssen offen aufgeklärt werden, nicht nur über die Therapie, sondern auch über die nicht erwünschten Wirkungen, über alle möglichen Komplikationen einer Therapie. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die moderne Krebstherapie, die neuen molekularen Behandlungen vor allem eines tun: Leben retten. Krebs ist dank der neuen Therapiemöglichkeiten und bei Früherkennung heute in den meisten Fällen keine todbringende Krankheit mehr, sondern eine chronische Erkrankung. Und es stimmt: Eine chronische Erkrankung bringt eine ständige ärztliche Kontrolle mit sich. Aber sie gewährleistet eine gute Lebensqualität.
Das heißt, das Um und Auf ist eine gute Kommunikation.
Dr. Christoph Leitner: Wir Ärzte sind längst nicht mehr nur Wissenschaftler, nur „Mediziner“. Wir müssen auch Kommunikatoren sein, im Idealfall auch Psychologen. Vor allem aber sind wir ja nicht allein, sondern arbeiten im Team. Mit dem Pflegepersonal, den Breast-Care-Nurses, dem Onko-Psychologen, dem Onko-Kardiologen, Sexual-Therapeuten, dem Strahlenmediziner, dem spezifischen Facharzt…Und die Kommunikation bezieht das ganze Lebens-Umfeld und die gesamte Lebenssituation des Patienten mit ein. Den Partner, die Familie. Krebs und auch seine Nebenwirkungen wirken sich auf den ganzen Menschen, auf den Körper und auf den Geist, das psychologische Befinden sowie auf sein gesamtes Umfeld aus. Und das gleiche gilt für die Langzeitnebenwirkungen. Eine Antihormon-Therapie beispielsweise kann, radikal ausgedrückt, ein Scheidungsgrund sein, sie kann massive Einwirkungen auf den Hormonhaushalt der Patientinnen und Patienten mit sich bringen, mit allem, was damit verbunden ist: Von Stimmungsschwankungen bis zu Trockenheit der Schleimhäute, Verlust der Libido, Potenzstörungen usw. Darauf müssen wir alle unsere Patienten und deren Partner/ Partnerinnen vorbereiten. Erklären, dass es sich dabei nicht nur um eine übertriebene „Spinnereien“ handelt, sondern um ernst zu nehmende Nebenwirkungen, für die der Patient gar nichts kann. Und da können wir unseren Patienten auch helfen.
Haben Sie entsprechende Angebote in Bruneck?
Dr. Christoph Leitner: Wir haben hier im Day-Hospital eine Onko-Psychologin, die auch Sexualpsychologin ist. Sie ist therapiebegleitend eingesetzt, führt Partnergespräche und gibt praktische Hilfen.
Gibt es, was (Langzeit)Nebenwirkungen betrifft, Unterschiede, ob es sich um eine Patientin oder um einen Patienten handelt?
Dr. Christoph Leitner: Ja, Frauen tun sich einfach leichter zu sprechen und sich zu öffnen. Gerade bei so delikaten Themen.. Und das hilft. Nicht nur, die Nebenwirkungen früh zu erkennen, sondern auch rechtzeitig einzugreifen.
Zum Abschluss eine letzte Frage zur Covid-Situation in Bruneck und wie Sie die Auswirkungen auf die Patienten beurteilen (das Interview wurde in der zweiten Novemberwoche geführt, Anm. d. Red.).
Dr. Christoph Leitner: Wir unterziehen mittlerweile alle, nicht nur die Hochrisiko-Patienten, einem sogenannten Antigen-Schnelltest. Wir sind, sowohl bei den Patienten als auch bei uns selbst, äußerst sorgsam in der Kontrolle von kleinsten Anzeichen, beim allerkleinsten Verdacht werden weitere diagnostische Schritte und eventuell Isolations-Maßnahmen veranlasst. Was unsere onkologischen Systemtherapien betrifft, gibt es derzeit keinerlei Einschränkung. Was mich hingegen mit Sorge erfüllt, sind die drastischen Einschränkungen der chirurgischen Eingriffe. Ich hoffe, dass sich das nicht auch auf die onkologischen Fälle ausweiten wird, denn da ist ein Zeitverlust ausschlaggebend. Welche Folgen die eventuell reduzierten Vorsorgeuntersuchungen haben werden, das werden wir erst in den nächsten Jahren sehen können.

Thema

In über 90 % der Fälle klingen Nebenwirkungen wieder ab

Prof. Dr. Manfred Mitterer über die Langzeitfolgen der Brustkrebsbehandlung
Prof. Dr. Manfred Mitterer ist Primar der zentralen internistischen Tagesklinik am Krankenhaus Meran, wo in den letzten 20 Jahren rund 1700 Patientinnen mit Brustkrebs behandelt wurden. Die Chance hat mit ihm ein Gespräch über die spezifischen Langzeitnebenwirkungen bei Brustkrebspatientinnen geführt. Viele dieser Symptome können sich auch erst nach Jahren bemerkbar machen.
Brustkrebs hat heute eine sehr hohe Überlebensrate. Aber nicht immer ist nach Beendigung der Therapie alles vorbei.
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Dies gilt grundsätzlich für jede Art von Tumor. Der Unterschied zu andern Tumoren ist aber, dass wir bei Brustkrebs eine ausgesprochen hohe Überlebensrate haben, nach fünf Jahren liegt sie derzeit bei 88%, und die Tendenz ist steigend. Viele unserer Patientinnen werden heute komplett geheilt werden. Vor allem nach einer Frühdiagnose.
Langzeitnebenwirkungen können aber dennoch auftreten?
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Ja, und das auch noch im Abstand von einigen Jahren nach Abschluss der Therapie.
Welches sind die häufigsten Langzeit-Nebenwirkungen?
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Es gibt neurologische Nebenwirkungen wie die Polyneuropathie, die auch individuell ganz unterschiedlich auftreten und sich ganz unterschiedlich entwickeln kann. Von leichten Beschwerden, wie Sensibilitätsverlust in den Zehen, leichtem Kribbeln in den Beinen bis hin zu starkem Brennen und starken Schmerzzuständen, Krämpfen, Lähmungserscheinungen, Gangunsicherheit usw. Einige Krebsmedikamente haben eine hohe Kardiotoxizität, können zu einer dauerhaften Schädigung des Herzmuskels führen… Welche Nebenwirkungen und in welchem Ausmaß sie auftreten, das hängt von sehr vielen Faktoren ab. Vorerkrankungen, Lebensstil, genetische Faktoren, seelische Verfassung, Umfeld, Stress… und natürlich auch von den in der Therapie eingesetzten Medikamenten, der Dosierung und der Kombination mit anderen Medikamenten.
Auch die Strahlentherapie kann für das Herz gefährlich werden?
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Das stimmt. Sowohl durch die Toxizität von bestimmten Medikamenten wie Anthrazykline, Taxane oder Trastuzumab, um nur einige zu nennen, oder eben auch durch die Strahlentherapie, kann der Herzmuskel der Patientin geschädigt werden. Schäden, die sich auch erst Jahre nach Behandlungsende bemerkbar machen können. Wobei man heutzutage sagen muss, dass durch die neuen Bestrahlungstechniken und die geringeren Dosen, die man appliziert, diese Schädigungen sehr selten geworden sind.
Es gibt noch andere Nebenwirkungen, die auch soziale Auswirkungen haben können...
Prof. Dr. Manfred Mitterer: …einige Krebstherapien können unter Umständen sekundäre Malignome verursachen, die nicht mit dem behandelten Tumor zusammenhängen, genauso wie unspezifische Schmerzzustände, Fatigue, psychische Störungen wie Angstzustände und dazu kommen auch die Nebenwirkungen der Hormontherapien, vor allem die medikamentenbedingten Wechseljahrbeschwerden, die gerade junge Frauen sehr hart treffen. Trockenheit der Schleimhäute, körperliche Veränderungen, zusätzlich zu den operationsbedingten Veränderungen, die sich auch negativ auf die Partnerschaft, auf das Selbstbild der Frau auswirken können.
Was bedeutet das für Sie als Onkologen?
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Das heißt, dass ich schon ganz am Anfang, schon beim Erstgespräch ganz offen mit der Patientin, und mit ihrem Partner oder ihren Angehörigen sprechen muss. Das heißt, dass vor Beginn der Therapie eine ganze Reihe von Untersuchungen durchgeführt werden müssen, die den Allgemeinzustand, den kardiologischen Zustand oder auch neurologische Vorerkrankungen der Patientin abklären. Diese Ergebnisse fließen auch in die Therapieentscheidung ein. Heute sind wir in der glücklichen Lage, dass wir nicht nur über eine, sondern über verschiedene Therapiewege verfügen, die ganz individuell auf die jeweilige Patientin abgestimmt werden können. Auch was die Dosierung betrifft. Viele der Nebenwirkungen sind auch abhängig von der Menge des verabreichten Medikaments.
Dies sind alles Entscheidungen, die im Team gefällt werden?
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Genau. Und genau aus diesem Grund braucht es den Onkologen: Um die Patientin (und natürlich bei jeder anderen Krebsart den Patienten) auch onkologisch -internistisch abzuklären. Eine Krebstherapie ist heute wie ein Mosaik, das sich aus vielen Bausteinen zusammensetzt. Keine Krebstherapie gleicht ganz genau der anderen, wie auch kein Mensch ganz genau dem anderen gleicht und kein Krebs genau dem anderen gleicht. Aus dieser Tatsache resultiert ja auch der Erfolg der modernen, individuellen Krebstherapien.
Und es gibt natürlich auch Therapien für die Nebenwirkungen…
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Natürlich. Auch darüber wird im ersten Gespräch informiert. Je nach Gesundheitszustand und Alter der Frau kann auch vorbeugend eingegriffen werden. Außerdem ist es ja nicht gesagt, dass die Nebenwirkungen tatsächlich auftreten. Und wenn, dann gibt es unterschiedliche Therapiemöglichkeiten, Medikamente, Elektrostimulation, Akupunktur ...
Das Risiko von Langzeit-Nebenwirkungen ist keine Kontraindikation für eine Krebstherapie…
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Selbstverständlich nicht. Es geht darum, das Leben der Patientin zu retten und dann natürlich auch, ihr eine angemessene Lebensqualität zu garantieren. Natürlich, früher stellte sich diese Frage nicht so dringend, weil die Patientinnen nicht dieselben Heilungschancen hatten wie heute. Und: Nebenwirkungen treten ja nicht bei allen Patientinnen auf und in den häufigsten Fällen, weit über 90 Prozent, klingen sie auch wieder ab. Das dürfen wir nicht vergessen!
Wir befinden uns mitten in der zweiten Welle der Covid-19-Pandemie. Eine Frage zur Situation in Ihrer Abteilung. Nach der ersten Welle der Pandemie hatten sie außerordentlich gute Ergebnisse vorzuweisen, die sie mit Mitarbeitern im Juni diesen Jahres in der Studie, „Infektionsrate und klinisches Management von Krebspatienten während der COVID-19- Pandemie: Erfahrungen aus einem Krankenhaus der Tertiärversorgung in Norditalien“ in der Online Zeitschrift ESMO Open – Cancer Horizons veröffentlicht haben (siehe auch Chance 2/ 2020, Anm. d. Red.). In der Studie haben Sie eine höhere Prävalenz von Covid-19 bei Krebspatienten nachgewiesen, aber auch, dass eine Covid-19- Infektion keine Kontraindikation für eine Fortsetzung der Behandlung darstellt.
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Und wir haben genau dort anknüpfen können. Wir sind schon zwei Wochen nach Beginn des zweiten Lockdowns wieder voll durchgestartet. Diesmal ist der Virusdruck nochmals um einiges größer als im Frühjahr. Zum Vergleich: Im Frühjahr hatten wir in acht Wochen der systematischen Testung unserer Patienten lediglich fünf Patienten die unter einer onkologischen Therapie standen und die positiv auf Covid-19 getestet wurden. Jetzt im Herbst haben wir in vier Wochen bereits mehr als 40 Patienten, die positiv auf das Virus getestet wurden. Und trotzdem sind wir in der Lage die lebensnotwendigen Therapien in vollem Umfang durchzuführen.
Liegen bereits Zahlen vor über Diagnose-Verzögerungen durch Covid-19?
Prof. Dr. Manfred Mitterer: Es gab weniger Zuweisungen von Neudiagnosen, das stimmt. Mein Kollege, Prof. Marth aus Innsbruck hat mit seinem Team gerade eine Studie veröffentlicht, wo sie nachweisen konnten, dass in den Frühjahrsmonaten die Zahl der neudiagnostizierten Brusttumore um etwa 40 % zurückgegangen ist. Das bedeutet natürlich mehrmonatige Verspätungen bei Diagnose und auch Therapie. Und genau das wollen wir hier in Meran durch unser massives Testen und Überwachen der Patientinnen verhindern.